Samstag, August 08, 2009

Auf die Perspektive kommt es an

Ist es ein Problem oder eine Chance?
Manchmal stellt sich ein Problem im Nachhinein als echter Glücksfall heraus - eben eine Chance. Das Dumme ist nur, das einem diese ex post Betrachtung in der Situation kein bisschen weiterhilft (im Sinne von: "Erfahrung ist das, was man hat, kurz nachdem man es brauchte", noch einer meiner Lieblingssprüche).
Ich habe für die Unterscheidung zwischen Chance und Problem vor kurzem eine schöne Metapher für die Perspektive gefunden, aus der heraus wir die Welt betrachten: Die Perspektive des Huhns oder des Adlers.

Das Huhn kennt seine Welt, den Hühnerhof, bestens. Alles, was zu weit hinter dem Zaun liegt, nimmt es jedoch nicht wahr und so ist alles, was bei dieser kleinen Welt vorbeischaut, zunächst eine Gefahr, die im Hühnerschwarm aufgeregt beschnattert wird.

Der Adler sieht das, was auf den Hühnerhof zukommt schon viel länger im voraus und kann mit mehr Abstand viel besser einschätzen, um was es sich handelt. Er ist zwar weiter weg, ein Eingreifen wird da vielleicht schwierig - aber die Perspektive des "großen ganzen" hilft, Dinge besser zu beurteilen.

Meistens sind wir - anders als Adler und Huhn - mal in der einen und mal in der anderen Rolle. Nicht vergessen, Sie können diese Rollen wechseln, wenn es angebracht erscheint.
Doch auch für Adler und Huhn gibt es Ausnahmen, wie diese Geschichte erzählt:

Ein junger Adler fiel eines Tages aus dem Nest. Er war noch so klein, dass er noch nicht selbst fliegen konnte. Ein Bauer, der zufällig des Weges kam, nahm ihn auf und setzte ihn in seinen Hühnerhof. Dort wuchs er mit den Hühner auf, fraß Körner und Regenwürmer und war sehr zufrieden.
Eines Tages kam ein Fremder in sagte zu dem Bauern: "Sie, das ist doch ein Adler. Das ist der König der Lüfte" Der Bauer lächelte und sagte nur: "Ich habe ihn aufgezogen wie ein Huhn. Und er fühlt sich wie ein Huhn. Er lebt wie ein Huhn und frisst Körner wie ein Huhn."
Der Fremde nahm den Adler und setzte ihn auf den Arm und sagte:"Breite deine Schwingen aus, fliege!" Der Adler blickte ihn verwundert an und sprang vom Arm, lief in den Hühnerhof und pickte Körner.
Am nächsten Morgen setzte ihn der Fremde auf den Dachfirst und sagte:"Du bist der König der Lüfte, fliege!" Der Adler konnte sich nicht erinnern, je so hoch oben gewesen zu sein. Er rutsche vom Dach, sprang auf den Boden und lief zum Hühnerhof und pickte Körner. Der Bauer lächelte und sagte:"Sehen Sie, er fühlt sich wie ein Huhn."
Aber der Fremde gab nicht auf und sagte:"Er hat das Herz eines Adlers."
Am dritten Tag nahm er ihn auf einen Berg und setzte ihn auf seinen Arm und sagte:"Breite deine Schwingen aus und Fliege." Der Adler schaute in das Tal und sah den Bauernhof. Er sah die Hühner und zu seiner großen Verwunderung auch die Körner. So scharf war sein Auge. Seine Flügel schüttelten sich ein wenig und vibrierten. Aber er blieb sitzen. Da wendete sich der Fremde gegen die Sonne, die gerade aufging und sagte:"Breite Deine Schwingen aus, du bist der König der Lüfte." Das Zittern des Adlers verstärkte sich und dann breitete er seine Schwingen aus und flog davon.
Er wurde nie wieder gesehen. Aber man weiss nicht genau, ob er nicht ein Huhn geheiratet hat.
(Die Quelle ist mir, wie so oft, unbekannt. Doch während meiner Ausbildung zur Geschichtenerzählern habe ich sie so oft in verschiedenen Varianten gehört, das sie für mich zum "Allgemeingut" der Geschichtenerzähler gehört. Wenn mir jemand die Quelle nennen kann, freue ich mich)

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