Mein Freund Paul sammelt Geschichten. Ich habe den Verdacht, er braucht sie für seine Arbeit, obwohl er in einem sehr technischen Umfeld arbeitet. Auf den ersten Blick haben Geschichten ja dort nichts verloren.
Doch: er ist einer der eigenwilligsten Menschen, die ich kenne. Er ist sehr kreativ, und sieht aus wie ein zerstreuter Professor. Doch man darf ihn nicht unterschätzen. Wenn er an einem Problem, das er lösen muss, nicht mehr weiterkommt, dann tut er gerne etwas Unerwartetes.
Einmal hat er mich und noch ein paar mehr Menschen eingeladen. Seine Worte waren in etwa folgende:„Das mit dem Storytelling – davon habe ich gehört. Jetzt macht mal. Ich gebe Euch ein Stichwort. Erfindet eine Geschichte dazu. Aber eine, die ich noch nicht gehört habe.“
So hatte ich das zwar nie gemeint mit dem Storytelling, denn dahinter steckt ja noch mehr, aber wir ließen uns darauf ein. Und das war nicht leicht, denn er kennt wirklich viele Geschichten. Eine der ersten Geschichte, die wir fanden und mit der wir auch viel Anfangen konnten, war folgende:
Die Geschichte vom gefährlichen Schaf
Zwei Käfer krabbelten am Rand der Wiese und unterhielten sich.
"Was ist denn da für ein Tier?", wollte der erste Käfer wissen. Der zweite wusste Bescheid:"Das ist ein Wolf. Das sanftmütigste aller Tiere. Noch nie hat er uns etwas Böses getan. Wenn Du Dich vor einem nicht in Acht nehmen musst, dann vor ihm."
Der erste Käfer ist beeindruckt. Doch er möchte noch mehr wissen: "Und das weiße, wollige dort hinten? Das sieht freundlich aus. Was ist das?"
Der zweite Käfer warnt ihn: "Das dort ist wirklich gefährlich: Das ist ein Schaf. Völlig Rücksichtlos trampelt es uns nieder und frisst uns mitsamt dem Gras. Wenn Du Dich vor einem in Acht nehmen musst, dann vor ihm."
"Und dagegen können wir nichts tun?" fragt der erste Käfer entsetzt, "Es frisst uns einfach auf??"
"Nein, wir können da nichts machen. Aber der Wolf weiß das und er ist gerecht. Siehst Du, wie er sich anschleicht: er bereitet sich darauf vor, uns zu rächen."
Die Geschichte hat damit zu tun, wie unterschiedlich man die Welt bewerten kann, ja nachdem, welchen Standpunkt man hat. Sie ging mit viel Spaß und vielen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten zurück in das Projekt von Paul. Dort überlegte dann das Projekt, mit welchem Problem es zu tun hatte: mit einem gefährlichen Schaf oder einem sanftmütigen Wolf (oder vielleicht auch umgekehrt, in der wirklichen Welt ist ja alles möglich).
Ab und zu ist es ganz gut, zu überlegen, ob man es mit einem Wolf oder einem Schaf zu tun hat. Und wenn die Welt, mit der man es gerade zu tun hat, wie ein gefährliches Schaf aussieht, dann kann man überlegen, ob man nicht mal die Perspektive wechselt.
Wir können das nämlich, im Gegensatz zum Käfer auf der Wiese.
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